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Dies ist ein Familienfoto

Dies ist ein Familienfoto und dass du von dem Mädchen angeschaut wirst, irritiert dich jetzt, und du fragst dich, was es bedeutet, was es im Zeitalter der Privatfotografie eigentlich bedeutet, ganz in Familie zu sein oder überhaupt: eine Familie zu haben? – Und du schreibst diesen Essay und dein Versuch einer Antwort lautet:
Eine Familie zu haben bedeutet heute vor allem: ein Familienfoto seiner Familie zu habenin einem Familienfoto seiner Familie mit-fotografiert worden zu sein – in einem privaten Familienfoto seiner Familie mit da zu sein, bildlich zu koexistieren. In einer zunehmend visuellen Kultur bedeutet wirklich da zu sein für den Menschen vielleicht immer öfter und immer vordringlicher: wirklich im Bild zu sein. Dass es eine zunehmende Bildfixiertheit bei der Selbstwahrnehmung und Selbstkonstruktion gibt, scheint unstrittig. Offen scheint dagegen die Frage, ob damit ein Verlust an Sprach- und Erzählkompetenz verbunden ist – ein Verlust, wie ihn Walter Benjamin in seinem „Erzähler“-Aufsatz einst auf ebenso eindringliche wie wehmütige Weise für die Moderne diagnostizierte?! – Auf die familiäre Erinnerung gewendet: Ist es so, dass man sich jetzt eben nur noch gegenseitig Familienfotos zeigt und keine Familiengeschichten mehr erzählt, respektive: erzählen kann, um die Selbst- und die Familienidentität zu vermitteln: „Da und da kommen wir her, und der Großvater hat damals … und die Großmutter war dafür bekannt, dass … und einmal hat sie … und ihre Schwiegermutter hat darauf hin … und dann kam meine Mutter zur Welt …“ Oder wie funktionieren die Familienbildrituale wirklich? – Was konkret geschieht im Gebrauch, wenn wir ein Familienfoto später zur Hand nehmen oder ein Familien-Dia an die Wand projizieren (unsere „Erinnerung“?) und dann mit dem Finger auf uns da in diesem Bild zeigen und dann dazu sagen: „Das waren wir! – Das sind wir! Das bin ich dort, ganz vorn sitzend links mit dem weißen Pullover“? Vervielfältigt das kollektive Bilderschauen nicht am Ende sogar – aller ikonophoben Kulturkritik zum Trotz – die Sprech- und Erzählanlässe: „Weißt du noch…?! Weißt du noch, damals…?!“ Kommt dann nur ein Nicken zurück, ein unbestimmtes, vages Nicken?! Verstehen und um-verstehen wir uns in diesem Nicken, bedeuten wir uns gegenseitig etwas darin? Wie geschieht fotografische Kommunikation? Es könnte die Aufgabe einer neuen visuellen Soziologie und visuellen Ethnologie der Gegenwart sein, genauer zu erforschen, wie Menschen auf einander und auf sich selbst Bezug nehmen, indem sie auf ihre eigenen Familienfotos Bezug nehmen und wie sie sich gegenseitig in diesen Bildern verstehen.
Und du kehrst zu dieser Fotografie zurück wie von einer langen Reise ohne Erklärungen.

Rainer Totzke

This is a family photograph

This is a family photograph. Several things vex you, such as why the girl is looking at you, and you wonder what it really means in the age of private photography to be in the bosom of your family or even to have a family. And you write this essay and your attempt to answer goes like this:
To have a family means, above all, one thing: to have a photograph of one’s family – to be included in a photograph of one’s family – to be a part of a group in a private family photograph of one’s family, to co-exist visually. In an ever-increasingly visual culture, this means really being there for people, perhaps increasingly often and increasingly urgently really being in the picture. A growing fixation on image in self-perception and self-construction seems indisputable. However, the question whether this is linked to a loss of linguistic and narrative competence has not been resolved – a loss that Walter Benjamin once diagnosed for modernity in his “narrator” essay in an equally forceful and melancholic way. Applied to family memories, is it true that people only tend to show each other family photographs and that they no longer tell family stories, or rather can tell them to convey their self and family identity? “We come from such-and-such, and back then grandpa did…and grandma was known for…and once she…and after that, her mother-in-law…and then my mother was born…” Or how do family photograph rituals really work? What actually takes place traditionally when we pick up a family photograph or project a slide on the wall slide (our “memory”) and then point to ourselves in this photograph and then say “That was us! – That is us! That’s me there right at the front on the left wearing a white pullover”? In the end, doesn’t looking collectively at pictures reproduce linguistic and narrative events, despite all the iconophobic cultural criticism? “Do you remember…? Remember that time…?” Isn’t there just a nod in return, an indefinite, vague nod? Do we understand this nod, its meaning and implications – by it, do we mean something to one another? How does photographic communication take place? It might be up to a new visual sociology and ethnology to research more carefully how people refer to themselves and each another by referring to their own family photographs and how they understand each other in these photographs.
And you return to this photograph as if from a long journey without any explanations.

Rainer Totzke

Hände und ein Wir

Die Hände des Mädchens. Die Finger berühren sich, liegen am Saum des Rockes, halb auf dem linken Knie. Der handgemachte, gestrickte Rock ist ein Sommergeschenk der Großmutter. Die Hand der Großmutter berührt sacht mit den vorderen Fingerkuppen den Rand des gestrickten Rocks. Nur eben so. Kaum spürbar. Eine Geste, die Zuneigung zeigt. Eine leise, wortlose Zuweisung „der Rock, den ich für Dich strickte“. Ihre Hand hat gearbeitet, im Garten, in der Küche und streifte dabei öfters über den Kittel, der ihr Kleid schützt.

Frauenhände. Hände und Arme der beiden Frauen. Eine unbewusste zärtliche Choreografie, die ihre Nähe, ihr Verwandtsein aufzeigt. Das Punktum dieser Familienfotografie.

Das Andere: ein Stuhl, der sich für die Dauer der Aufnahme geteilt wird. Hinter dessen Lehne in gebückter Haltung, um in das Format zu passen der Großvater des Mädchens steht. Ohne die Hände auf die Schultern der Frauen zu legen. Im spontanen „und stell Dich doch noch dazu“ und „wir machen noch ein Foto mit euch dreien“.
Vor diesem Moment gab es mehrere Fotos vom Mädchen. Sie alleine. Das mechanische Geräusch des Auslösers als Bezeichnung des Augenblickes. Dann Fotos mit der Großmutter, bei der das Mädchen zu Besuch ist. Und wieder sekundenlanges Einatmen und Stillhalten, bis die Kamera klickt und der Film belichtet ist. Diese Momente vergehen langsam. In diesen Momenten spüren alle die körperliche Wärme, die Anwesenheit der anderen.


Dasein,
zwischen den Takten, zwischen dem Entstehen einer Fotografie. Mehrere Ich. Mehrere Du. Und dazwischen so etwas wie ein Wir.

Birgit Szepanski

Hands and a ‘we’.

The girl’s hands. Her fingers touch each other, lying on her skirt seam, half resting on her left knee. The handmade, knitted skirt is a summer present from her grandmother. The grandmother’s hand gently touches the edge of the knitted skirt with her fingertips. Just because. Barely noticeable. A gesture that shows affection. A soft, wordless appropriation: “The skirt that I knitted for you.” Her hands have worked, in the garden, in the kitchen, and have often been wiped on the apron that protects her dress.

Women’s hands. Hands and arms of both women. A tender choreography of unawareness, showing intimacy and kinship: the punctum of this photograph.

The other punctum: a chair that is shared for the duration of taking the photograph. Standing behind the backrest, stooping to fit into the format, the girl’s grandfather. Without placing his hands on the women’s shoulders. A spontaneous, “Why don’t you join us?” and “We’ll take another photo with the three of you”.

Before this, there were many photos of the girl. On her own. The mechanical sound of the shutter as the expression of the moment. Then photos of the girl with her grandmother when she’s visiting. And everyone holding their breath for seconds and keeping still until the camera clicks and the film is exposed. These moments pass slowly. In these moments, everyone feels the body warmth, the presence of the other.

Being there, between beats, between the creation of a photograph. Several ‘I’s. Several ‘you’s. And in between, something like a ‘we’.

Birgit Szepanski